FLASHBACK – das ist die neue Serie bei „Das Herz der Stadt“. Wir werfen einen beherzten Blick zurück – auf Ereignisse, Berichte, Geschehnisse. Und schauen mit etwas Abstand, was daraus geworden ist.

FLASHBACK
Februar 2019: Der offene Brief der Architektin Astrid Engel – der dann genau so eintrat

von | 28. Feb. 2021

Autor Edgar Wilkening

AUTOR
Edgar Wilkening.
Hinterher ist man immer schlauer? Lässt der erfahrene Stratege nicht gelten. „Schlau ist nur, wer vorher schon erkennt, was hinterher rauskommt.“

Er liest sich wie ein Fanal, wie eine böse Vorahnung: der offene Brief der Mindener Architektin Astrid Engel vom Februar 2019.

Ein glühender Appel an Politik und Stadtgesellschaft, die historisch einmalige Chance, die sich damals am Rampenloch bot, nicht zu verspielen. Am Ende ist – leider, leider, leider – alles so gekommen, wie prophezeit …

„Stadt der vertanen Chancen? Minden arbeitet weiter daran“ lautete der provokante Titel des offenen Briefes, der am 20. Februar 2019 auf der Webseite der Architektin online ging.

Parallel verschickte Astrid Engel den Brief mit regulärer Post an alle Vorsitzenden der damaligen Fraktionen im Mindener Stadtrat. Die PDF-Version des Original-Briefs gibt’s hier zum Download (345 KB).

Eine einmalige Konstellation von Faktoren, die sich damals am Rampenloch ergeben hatte – das war es, worauf die Architektin hinweisen wollte. Eine Gelegenheit, die sich so bisweilen eben nur für eine einzige Generation öffnet. Und die muss dann klug damit umgehen.


ERSTENS
Ein Areal mit einer bedeutsamen zweihundertjährigen Geschichte: Rotlichtbetrieb auf Geheiß des preußischen Staates zur öffentlichen Gesundheitsvorsorge.

ZWEITENS
Der Rotlichtbetrieb ist wirtschaftlich am Ende, das Areal fällt in einen Dornröschenschlaf – und will wachgeküsst werden für eine neue, zukunftsgerichtete Nutzung.

DRITTENS
Die Stadt Minden erwirbt das Areal selbst – und hat damit alle Möglichkeiten, den Prozess der Neu-Entwicklung klug und zum Nutzen aller zu steuern.


Drei Fügungen, die mehr oder wenig zufällig zusammenfallen, in einem winzigen Zeitfenster. Die Gunst der Stunde. Man könnte sie nutzen.

In anderen Städten fängt man schon unter weniger günstigen Voraussetzungen an, ein ganz großes Rad zu drehen und Außergewöhnliches daraus zu schaffen.

Warum also nicht auch in Minden?

… ach, stimmt: weil wir in Minden sind.

Denn zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Briefes hatte der Haupt- und Finanzausschuss auf Geheiß des Baubeiorgeordneten Lars Bursian längst dessen Plan abgenickt, das Areal für Wohnbebauung zu verwenden.

Alternativen zu Wohnnutzung? Null! Nicht mal erwogen! Beispielsweise: eine Nutzung für die gesamte Bürgerschaft, für alle Mindener Bürger. Och nö! Oder für einen Attraktionspunkt über die Stadtgrenzen hinaus? Nix da! Oder irgend-, irgend-, irgendeine Alternative zu gesichts- und geschichtslosem Wohnen? Nein. Dem Baubeigeordneten und seiner Entourage schön auf den Leim gegangen.

„Damals habe ich gesehen, wie bequem es sich fast alle Stadtverordneten machen, ganz gleich, aus welcher Partei“, sagt Architektin Astrid Engel heute. „Seitdem weiß ich, wie wichtig es ist, dass wir unbequem sind als Bürger – und Politiker nicht durchkommen lassen mit ihrer Bequemlichkeit.“

Deshalb der deutliche Tonfall im offenen Brief. Denn direkt nach der Veröffentlichung gab es nur noch den Stadtrat, der die Situation hätte retten können. Aber in den Reaktionen, die die Architektin auf ihren Brief kassierte, zeichnete sich schon ab, was kommen würde: überwiegend Desinteresse, viel Arroganz und, ja, auch sehr viel Dummheit.

Am 28. Februar 2019 winkte deshalb auch der Stadtrat den Wohnplan durch. Historische Chance? Kein Interesse.

Heute sind all die Dinge, die in Astrid Engels Text nur böse Prophezeiungen waren, längst eingetreten. Das Areal wurde einem Bauunternehmer zur Wohnbebauung anhand gegeben. Die Kosten, die die Stadt beim Erwerb des Areals hatte, kommen nicht mal zu einem Drittel wieder rein. Eine Nutzung, die Sinn stiften würde für alle Mindener und die gesamte Stadt, oder womöglich sogar über die Stadtgrenzen hinaus – passé.

Lediglich ein einziger der damals beteiligten sechzig Stadtverordneten hat bis heute den Mumm gehabt, öffentlich einzugestehen: „Wir haben da einen Riesenfehler gemacht damals.“

Der Rest der Karawane zieht einfach weiter – zu den nächsten Chancen, die es zu vergeigen gilt auf Kosten der Bürger, auf Kosten der Stadt.

Auch deshalb ist der offene Brief vom Februar 2019 heute ein bedeutsames Zeitdokument. Weil er zeigt, wie wenig Sinn für historische Situationen Verwaltung und Politik offenbar haben. Und wie wichtig es ist, dass Bürger unbequem sind und aufpassen auf ihre Städte.

Das Herz der Stadt jedenfalls steht gern auf der Seite der Unbequemen. ♥

Der offene Brief vom 20. Februar 2019 hier zum Download

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