HEUTE: 150. Jahrestag der Befreiung Mindens. Und wer feiert’s? Keiner …
Symbolfoto. Reichstag, Plenarsitzungssaal im Jahr 1889. Foto von Julius Braatz (1844 – 1914). This image was provided to Wikimedia Commons by the German Federal Archive (Deutsches Bundesarchiv) as part of a cooperation project. The German Federal Archive guarantees an authentic representation only using the originals (negative and/or positive), resp. the digitalization of the originals as provided by the Digital Image Archive., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5338482
Als Marken- und Strategieberater tätig, Schwerpunkt Storytelling und Innovations-Management.
Seine neue Comedy-Story „Der Spirit von St. Pauli“ erscheint am 12. September 2023 bei Rowohlt.
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Jede Pommesbude feiert ihr zehnjähriges Bestehen, erst recht das zwanzigste oder dreißigste. Und der Bürgermeister gratuliert dazu.
Und wenn sich in Minden der Tag der Befreiung vom preußischen Festungsstatus jährt?
Interessiert’s keinen.
Nicht mal, wenn’s ein rundes Jubiläum ist, nämlich sage und schreibe der einhundertundfünfzigste Jahrestag. Die Botschaft ist deutlich: In Minden ist Pommesbude jedenfalls wichtiger als Freiheit.
DIE BOTSCHAFT IST DEUTLICH: POMMESBUDE IST WICHTIGER ALS BEFREIUNG
Dabei ist genau heute, am 30. Mai, vor einhundertfünfzig Jahren, also 1873, etwas geschehen, das für Minden zu den bedeutsamsten Ereignissen seiner mehr als tausendjährigen Geschichte gehören dürfte.
Es hat das Erscheinungsbild der Stadt, wie wir sie heute kennen, maßgeblich geprägt. In seiner Bedeutung höchstens vergleichbar mit den Zerstörungen durch die alliierten Luftangriffe während des Zweiten Weltkriegs.
Prägende Stadtelemente wie das Glacis, das sich wie ein grüner Gürtel um den alten Stadtkern schmiegt und auf das kein Bürger heute mehr verzichten wollen würde, gehen auf diesen Tag vor einhundertfünfzig Jahren zurück.
Der 30. Mai 1873, er war ein Freitag. An diesem Tag kam in der Reichshauptstadt Berlin der Deutsche Reichstag zusammen (oben ein Foto aus dem Jahr 1889) und beschloss das „Gesetz, betreffend die Geldmittel zur Umgestaltung und Ausrüstung von deutschen Festungen“.
Klingt trocken, hat’s aber in sich – insbesondere für Minden. Denn die Weserstadt wird in Artikel VI. ausdrücklich angesprochen: „Für die eingehenden Festungen (…) Minden (…) hören die Rayonbeschränkungen am 1. Oktober 1873 auf.“
Scan aus dem Deutschen Reichsgesetzblatt 1873, Seite 123.
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Scan aus dem Deutschen Reichsgesetzblatt 1873, Seite 124.
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Scan aus dem Deutschen Reichsgesetzblatt 1873, Seite 125.
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Gelb markierte Hervorhebungen durch den Autor.
Dieser Artikel VI. ist ein Befreiungsschlag für die Stadt Minden. Denn die Formulierung „hören die Rayonbeschränkungen (…) auf“ bedeutet nichts anderes, als dass das Militär das Sagen über die Stadt verliert.
Seit Generationen war Minden preußische Festungsstadt. Eingeschnürt von Festungsmauern, die der Stadt regelrecht die Luft zum Atmen raubten und sie daran hinderten zu wachsen.
Und vor den Festungsmauern? Weites, freies Gelände, in dem ebenfalls das Militär das Sagen hatte. Und bestimmen konnte: Was durfte dort gebaut werden – und was nicht?
So viel war klar: in Quasi-Sichtweite der Stadt jedenfalls keine Häuser, keine Fabriken, keine festen Gebäude oder anderes, das einem heranrückenden Feind hätte Schutz gewähren können. Freies Schussfeld vor den Stadtmauern war die Devise.
Über Generationen war Minden in ein militärisches Korsett gezwängt und konnte nicht über sich hinauswachsen. Ein Spirit, der in vielen Köpfen der Stadt bis heute noch spürbar ist.
BLOSS NICHT ÜBER SICH HINAUSWACHSEN: EIN SPIRIT, DER BIS HEUTE IN DER STADT LEBENDIG IST
In wohl kaum einer anderen deutschen Stadt waren zu dieser Zeit die Wohnverhältnisse so beengt wie in Minden, nirgendwo sonst lebten statistisch so viele Menschen auf so wenig Wohnraum zusammen.
Die Stadt ächzte unter dem Militärdiktat und verpasste sogar den Anschluss an die Industrialisierung. Innerhalb der Stadtmauern war schlicht und einfach kein Platz für diese neumodischen Fabriken, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts überall aus dem Boden schossen. Und außerhalb der Stadtmauern? Wäre es nur weit entfernt von der Stadt möglich gewesen.
Andere Städte, die nicht unter dem preußischen Festungsdiktat standen, boten Unternehmern da deutlich bessere Voraussetzungen. Dortmund und Bielefeld zum Beispiel. Deren Einwohnerzahlen lagen noch im Jahr 1816 unter der von Minden. Dann prosperierten beide – und hatten das Weserstädtchen schnell überholt und für immer abgehängt.
DER 30. MAI 1873: ER KÖNNTE ALS BEFREIUNGSTAG IN DIE GESCHICHTE MINDENS EINGEHEN
Wenn man ein solches Datum in der Stadtgeschichte identifiziert hat: Was könnte man alles daraus machen! Erst recht, wenn es sich nicht zum 7. oder 11. Mal jährt – sondern zum großen einhundertundfünfzigsten Mal!
Erfahrenen Storytellern und Marketern springt regelrecht ins Auge, wie man dieses Datum für das Profil einer Stadt, für das Storytelling nutzen kann. Nicht, indem man stumpf Historisches nacherzählt. Sondern indem man den Storykern aufgreift und etwas für die heutige Zeit daraus entwickelt.
Meine frühere Heimatstadt Hamburg, an deren Storytelling ich an vielen Stellen mitwirken konnte, zeigt gerade mit einem ganz aktuellen Beispiel, wie’s geht: mit der Come Together Experience. Nicht Beatles-Geschichte dröge nacherzählen und im Gestern verweilen – sondern den Kern ins Heute übertragen und in zeitgemäßem Rahmen erlebbar machen.
Ein Befreiungs-Festival in Minden, immer zum 30. Mai? Oder eine echte Freiheits-Konferenz, die den Namen wirklich verdient? Ein Entfestigungs-Fest im Glacis? Ein Entfesselungs-Festival? Warum nicht gleich: eine Freedom of Mind(en) Experience …?
Erfahrenen Kreativen fallen angesichts der Berliner Ereignisse vom 30. Mai 1873 auf Anhieb Dutzende von Ideen ein, aus denen man tragfähige Jubiläumskonzepte entwickeln könnte – mit potenziell bundesweiter Wahrnehmung.
IMMER AM 30. MAI: EINE FREEDOM OF MIND(EN) EXPERIENCE, DIE EIN FEST DER FREIHEIT FEIERT?
Der 150. Jahrestag, der die Geburtsstunde eines wachsenden Mindens markiert; der Befreiungsschlag, der das Ende der Stadtmauern und damit die Anlage des vielgeliebten Grüngürtels „Glacis“ möglich machte; der Tag, ab dem das Bürgertum entlang des Glacis herrschaftliche Villen zu planen begann, deren erhabene Schönheit uns auch heute noch begeistert; das Datum, an dem Minden das einzwängende Korsett abwarf – und endlich die Chance hatte sich wortwörtlich selbst zu entfalten.
So viele Ebenen! So viele Schichten für Geschichten! So viele Ansätze für professionelles Storytelling!
Und was macht Minden daraus?
Das Gleiche wie immer: nichts. Einfach gar nichts.
Dieser Artikel hier erscheint am 30. Mai 2023, exakt um 15:00 Uhr MESZ. Bis zu diesem Zeitpunkt: Haben Sie irgendein Statement des Bürgermeisters zum Befreiungstag am 30. Mai 1873 gehört oder gelesen? Gab es einen Festakt im Rathaus?
UND WAS MACHT MINDEN DARAUS? DAS GLEICHE WIE IMMER: NICHTS
Hat sich irgendein Repräsentant aus Politik oder Verwaltung dazu zu Wort gemeldet? Hat die Stadt auf ihrer eigenen Webseite eine Meldung darüber veröffentlicht? Etwa das Preußenmuseum? Vielleicht irgendwer aus den ganzen Schlaumeier-Parteien und -Fraktionen?
Oder wenigstens Minden Marketing, die offizielle Werbebutze der Stadt? Vielleicht die ewig neunmalkluge Journaille, die immer behauptet gut informiert zu sein? Oder wenigstens die selbstzufriedenen Geschichtslehrer in ihren drögen Geschichtsvereinen …?
Fehlanzeige.
Nirgends ein Hinweis. Nirgends ein Wort zum Jubiläumstag. Nirgends eine Würdigung. Geschweige denn, dass man Größeres aus dem Hundertfünfzigsten gemacht hätte.
Warum eigentlich nicht?
Wissen unsere Stadtoberen womöglich nichts von diesem Jubiläum? Steht es gar nicht in ihren Kalendern? Das würde bedeuten, dass sie – vom Bürgermeister über Politik und Marketing bis zur Lokalpresse – keinen blassen Schimmer haben von den besonderen Eigenheiten unserer Stadt.
Oder ist ihnen allen das Thema „Freiheit“ derart suspekt, dass sie es in der Öffentlichkeit lieber gar nicht ansprechen möchten?
NIRGENDS EIN HINWEIS. NIRGENDS EINE WÜRDIGUNG. ALS WÜRDE ES DIESES JUBILÄUM GAR NICHT GEBEN!
Nichts. Nichts. Nichts. Es ist die große Konstante dieser Stadt und derer, die sie lenken. Verpasste Chancen, nicht genutzte Gelegenheiten.
Statt aufzugreifen, was die Stadtgeschichte ihnen vor die Füße spült, und daraus etwas Großes, etwas Bewegendes zu erschaffen, erzählen sie den Menschen lieber einen vom Plus – was noch nie zu irgendeinem brillanten Storytelling geführt hat.
Wir haben das Gleiche auch schon bei der Neu-Entwicklung des historischen Rampenloch-Areals erlebt. Und bei vielen anderen Gelegenheiten. In dieser Stadt regiert nicht die Klugheit, sondern ein Stumpfsinn, der mehr und mehr Gesichts- und Geschichtslosigkeit befördert.
So stürzt man die Stadt immer tiefer hinab ins unterste Mittelmaß – statt sie zu stärken und ihr das Profil zu verleihen, das sie haben könnte. Jede Pommesbude wird besser geführt als dieses Städtchen.
Der heutige 30. Mai 2023, dieser Dienstag, an dem niemand außer uns des einhundertfünfzigsten Jubiläums der Befreiung Mindens am 30. Mai 1873 gedenkt, er belegt vor allem: Um in Minden zu regieren oder wenigstens ein großes Wort zu führen, ist himmelschreiende Ahnungslosigkeit kein Hindernis, sondern eine der wichtigsten Kernkompetenzen.
PS: Wir bei Das Herz der Stadt haben den heutigen Jubiläumstag seit knapp fünf Jahren im Kalender stehen – eines Projektes wegen, an dem wir im Hintergrund arbeiten. Und wir haben zahlreiche weitere Jubiläumsdaten im Kalender: viel Stoff für noch mehr Spott.
Diese Stadt verdient endlich ein Rathaus, das umsichtig und klug agiert, um das wahre Potenzial der Stadt zu heben.