Wahlprüfungsausschuss: Die dunkle Seite der Macht in unserer Demokratie – jedenfalls in Minden-Lübbecke
AUTOR
Edgar Wilkening
Ich mache mir Sorgen um unsere Demokratie.
Am 24. Februar 2021 habe ich an der Sitzung des Wahlprüfungsausschusses des Kreises Minden-Lübbecke teilgenommen. Seitdem mache ich mir Sorgen um unsere Demokratie.
Nein – nicht wegen AfD-Politikern wie Sebastian Landwehr, der im Ausschuss saß als Vertretung für AfD-Rechtsaußen Thomas Röckemann. Mit solchen Kräften muss Demokratie umgehen können.
Sorgen mache ich mir WEGEN DER ÜBRIGEN AUSSCHUSS-MITGLIEDER, die anwesend waren – die aus den sogenannten „normalen“ Parteien.
Philipp Müller (CDU), Angelika Buttler (SPD), Moritz Brünger (CDU), Ulrich Pock (SPD), Jana Katharina Sasse (Grüne) und, und, und. Denn wenn man sie fragen würde – sie würden sich wohl allesamt als aufrechte Demokraten bezeichnen.
Das passt wiederum gar nicht zu dem, was sie sich in der gestrigen Auschusssitzung geleistet haben …
Wohin der Hase laufen würde, stellte Ausschussvorsitzender Rolf Dieter Schütte (CDU) schon vor Beginn der Sitzung klar. „Das werden wir hier heute nicht mehr aufklären können, was da war“, sagte Schütte im persönlichen Gespräch mit Thorsten Bertram.
Bertram nahm als Gast an der Ausschusssitzung teil. Grund: Er und seine Frau Katrin waren am 27. September 2020 bei der Stichwahl zum Landrat / zur Landrätin an der Abgabe ihrer Stimmen gehindert worden.
Es war bei weitem nicht die einzige Unregelmäßigkeit, die sich an jenem Wahlsonntag im Stimmbezirk 071, Hauptschule Todtenhausen abgespielt haben muss. Denn am Ende des Wahltages verweigerten die Wahlhelfer im Lokal die Unterzeichnung der Wahlniederschrift – offenbar weil sie fürchteten, sich anderenfalls der Dokumentenfälschung schuldig zu machen.
Die Wahlniederschrift ist ein hochoffizielles Dokument. Es ist das offizielle Protokoll eines Wahltags im jeweiligen Stimmbezirk. Es hält auch besondere Vorkommnisse und andere Auffälligkeiten fest. Zum Beispiel, wenn Personen bei der Wahl zurückgewiesen wurden.
In der Wahlniederschrift aus dem Stimmbezirk 071, Hauptschule Todtenhausen fehlt jeder Hinweis auf die Zurückweisung der Eheleute Katrin und Thorsten Bertram. Und wohl auch deshalb verweigerten die Wahlhelfer ihre Unterschrift unter das Dokument.
Welche Rolle SPD-STADTVERBANDS-VORSITZENDER THORSTEN BÜLTE als verantwortlicher Wahlvorsteher dabei spielte, ist bis heute nicht geklärt.
Es gäbe also genug zu prüfen für ein demokratisches Organ, das sich ganz offiziell „Wahlprüfungsausschuss“ nennt.
Und trotzdem nimmt der Ausschussvorsitzende Schütte schon zwanzig Minuten vor Beginn das Ergebnis vorweg? „Das werden wir hier heute nicht aufklären können…“
Punkt 15:30 Uhr beginnt die Sitzung. Begrüßung. Feststellen der Beschlussfähigkeit. Weil es die erste Sitzung in der neuen Legislaturperiode ist: offizielle Verpflichtung der Ausschussmitglieder. Dann Tagesordungspunkt 2: die Einsprüche der Eheleute Katrin und Thorsten Bertram gegen die Wahl.
Der Vorsitzende übergibt an Kreiswahlleiterin Cornelia Schröder. Die lässt keinerlei Zweifel daran: Die Einsprüche der Bertrams sind berechtigt. Beide hätten am Wahltag im Wahllokal wählen dürfen. Es war nicht rechtens, den Eheleuten Bertram die Ausübung ihres Wahlrechts im Wahllokal zu verweigern.
Allerdings: Angesichts eines insgesamt sehr deutlichen Wahlergebnisses (circa 56.000 Stimmen für CDU-Kandidatin Anna Katharina Bölling, nur etwa 32.000 Stimmen für SPD-Kandidat Ingo Ellerkamp) habe die Wahlbehinderung der Eheleute Bertram letztlich keinen Einfluß auf das Wahlergebnis und sei also vernachlässigenswert.
Vorsitzender Schütte schaut in die Ausschussrunde: „Fragen dazu? Wünscht jemand Erläuterungen?“ Niemand meldet sich. Kein einziger. Nicht einer – nicht eine! „Dann kommen wir zur Beschlussvorlage.“ Die wird ohne Gegenstimmen, ohne Enthaltungen, also einstimmig angenommen von allen Ausschussmitgliedern.
Es ist jetzt 15:38 Uhr. Nochmal: Punkt 15:30 ging’s los! Die Sitzung hat bis jetzt EXAKT ACHT MINUTEN gedauert. Und alle Fragen sind geklärt?
Alle Unregelmäßigkeiten, alle Auffälligkeiten im Stimmbezirk 071, Hauptschule Todtenhausen, sind damit für den Wahlprüfungsausschuss erledigt. Finito. Ende. Thema vom Tisch.
Was hätte man nicht alles fragen können als wahrhaft aufrechter Demokrat!
Was waren die Gründe, dass man den Eheleuten Bertram das Wahlrecht verweigerte? Wer ist dafür verantwortlich?
Wie vielen Menschen insgesamt wurde die Teilnahme an der Wahl im Stimmbezirk 071 vor Ort verweigert, wenn doch Strichlisten darüber geführt wurden und die Bertrams die Auskunft erhielten, sie seien nicht die einzigen gewesen?
Warum wurden derartige Vorfälle in der Wahlniederschrift nicht formell protokolliert, sondern die entsprechenden Felder leergelassen? Wer ist dafür verantwortlich?
Warum haben die im Wahllokal anwesenden Wahlhelfer ihre Unterschriften unter die Wahlniederschrift verweigert?
Darf eine formell ungültige Wahlniederschrift überhaupt in ein Wahlergebnis einfließen?
Wem hätte wann auffallen müssen, dass die Wahlniederschrift aus dem Stimmbezirk 071 ungültig ist, weil sie nicht unterzeichnet wurde?
Welche Rolle spielt SPD-Funktionär Thorsten Bülte als verantwortlicher Wahlvorsteher bei all diesen Vorfällen?
Und wie kam Bülte zu der (in der Wahlniederschrift festgehaltenen) eigenmächtigen Einschätzung „Das Ergebnis bleibt davon unberührt“, wenn doch die Wahlniederschrift insgesamt formell ungültig ist?
Warum hören wir nicht Thorsten Bertram zu alledem – da er ja heute als Gast zugegen ist und ohnehin vorab schriftlich um Redeerlaubnis in der Sitzung gebeten hatte?
… hätte man alles fragen können. Das und vieles mehr.
Interessiert selbstzufriedene „aufrechte Demokraten“ aber offenbar nicht. Die interessiert vor allem: schnelles Durchwinken, rasches Abnicken, fix nach Hause bei dem schönen Wetter.
Um das hier klarzustellen: Nein, es geht nicht darum, das Ergebnis der Stichwahl anzuzweifeln. Der Sieg der CDU-Kandidatin Anna Katharina Bölling ist so eindeutig, wie es ein demokratisches Wahlergebnis nur sein kann. Gut so.
Gerade WEIL DAS ERGEBNIS SO EINDEUTIG IST, wäre es eine gute Gelegenheit gewesen für einen Ausschuss, der Unregelmäßigkeiten prüfen soll, die Vorfälle im Stimmbezirk 071 aufzuklären.
Um zu belegen, dass der Wahlprüfungsausschuss eben gerade kein stumpfes Schwert ist, kein zahnloser Papiertiger. Dass er nicht der dunklen Seite der Macht angehört. Sondern in der Lage ist, demokratische Wahlen zu prüfen und Unregelmäßigkeiten tatsächlich aufzuklären.
Damit es genau dann, wenn eine Wahl mal nicht so klar ausgehen sollte, sondern vielleicht von einigen wenigen Stimmen abhängen sollte – damit es genau dann keinerlei Zweifel an der Kompetenz, an der Integrität und an der Handlungsfähigkeit dieses Organs gibt.
Diese Chance haben die versammelten Ausschussmitglieder gestern ohne jede Not verspielt. Keine Fragen, keine Aufklärung, kein Interesse. Die dunke Seite der Macht.
Um 15:42 schließt der Darth Vader der Wahlprüfung im Kreis Minden-Lübbecke die Sitzung: „Dann bedanke ich mich für die Mitarbeit und die zügige Abarbeitung der Tagesordnung und wünsche uns allen noch einen guten Heimweg.“
Sage und schreibe zwölf Minuten hat die gesamte Sitzung gedauert. Schnell verdientes Sitzungsgeld für diese Sorte „aufrechte Demokraten“.
Ja – seitdem mache ich mir Sorgen um unsere Demokratie.
Auch am Wählen gehindert worden?
Falls Sie ebenfalls an der Ausübung Ihres Wahlrechts im Stimmbezirk 071 gehindert worden sein sollten und uns davon berichten möchten: einfach eine Nachricht mit Ihren Kontaktdaten an redaktion@dasherzderstadt.de – wir melden uns. Alle Hinweise werden auf Wunsch streng anonym und ohne Hinweis auf die Identität von Personen bearbeitet.
Man ist fassungslos. Es kann ja wohl nicht sein, dass solche Vorfälle bei einer Wahl so unter den Tisch von dem Wahlprüfungsausschuss gekehrt werden.