Mit neuer Ästhetik wider das Vergessen: Medieninstallation zur Reichspogromnacht
Von
Edgar Wilkening
Dieser Beitrag ist live vor Publikum entstanden in der “O19”, dem Schaufenster-Studio von Das Herz der Stadt in der Obermarktstraße 19.
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ew@dasherzderstadt.de
Die von Nazi-Deutschland organisierten Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger im November 1938, sie fanden – natürlich – auch in Minden willfährige Täter und Mitmacher. Die Reichspogromnacht hat bei den seinerzeit in der Stadt lebenden Juden nachhaltig für Angst und Schrecken gesorgt – und für massive wirtschaftliche Schäden.
Das Haus Obermarktstraße 19, in dem Das Herz der Stadt aktuell residiert, wäre wohl ebenfalls ein Kandidat für die Ausschreitungen des volksdämlichen Pöbels gewesen. Denn 1938 befand sich das Gebäude mit dem Lebensmittelgeschäft im Besitz des jüdischen Bürgers Bruno Lilienthal.
War dem nationalsozialistischen Mindener Mob das womöglich entgangen? Hatte man gar Gnade vor Unrecht walten lassen? Wohl kaum …
Es steht zu vermuten, dass der Grund, warum das Haus Obermarktstraße 19 in dieser Nacht von Angriffen verschont blieb, einzig darin bestand, dass Bruno Lilienthal sein Kolonialwarengeschäft ohnehin schon aufgegeben hatte. Und der Lebensmittelladen im Erdgeschoss seit Anfang der 1920er Jahre von der aus Hattingen an der Ruhr stammenden Heinrich Hill AG betrieben wurde.
Ein „deutscher“ Händler mit einem „deutschen“ Geschäft – das dürfte der einzige Grund sein, warum die Obermarktstraße 19 die Mindener Brand- und Brandschatzung-Nacht der Nazis ungeschändet und ungeplündert überstanden hat.
Nichtsdestotrotz: Als neue Eigentümer des Objekts fühlen sich der Autor und seine Lebensgefährtin, die Mindener Architektin Astrid Engel, der Geschichte des Hauses verpflichtet.
2021 jährte sich die Reichspogromnacht zum insgesamt 83. Mal. Aber für uns war es der erste Jahrestag während unserer Eigentümerschaft. Das haben wir zum Anlass genommen, eine ganz besondere Form des Gedenkens an diesen Tag zu zelebrieren.
Entstanden ist ein ungewöhnlich eindringliches Video, das im Schaufenster des Hauses rund um die Uhr lief, vom Vormittag des 9. November 2021 bis zum Mittag des Folgetages.
Ein Film, der die typischen Medienklischees des Historischen (Schwarz-Weiß-Optik etc.) ganz bewusst vermeidet und statt dessen mit neuer, eigenständiger Ästhetik versucht, die Schrecken der November-Nacht 1938 spürbar werden zu lassen.
Nüchtern betrachtet zählt das 100-Sekunden-Video die Orte der Angriffe auf und benennt die Straßennamen und Hausnummern, an denen der Nazi-Mob wütete.
Eindringlich wird es dadurch, dass nahezu alle der Adressen auch heute noch existieren. Kampstraße, Simeonstraße, Ritterstraße, Bäckerstraße: vertraute Namen für jeden, der die Mindener Innenstadt kennt. Und allesamt Orte, die in Fußweite der Obermarktstraße liegen – quasi gleich um die Ecke.
Trotz dieser nüchtern wirkenden Aufzählung entwickelt das Video eine erschreckend beklemmende Atmosphäre. Zum einen durch das spektakuläre Motion Graphic Design, das schon im farblichen Erscheinungsbild die Anmutung von Brand und Bedrohung vermittelt. Zum anderen durch die kongeniale Kombination mit Musik und Sound Effects.
All das wirkt so zeitgemäß im Look, so ganz und gar nicht altbacken oder gestrig, sondern jetzig und „netflixig“, dass die vor mehr als achtzig Jahren geschehenen Ereignisse bedrückend nah und verblüffend aktuell wirken. Regie, Editing, Musik: Da waren offenbar Meister am Werk – bei allen beteiligten Gewerken.
Das ist ganz typisch für Teams, die Medienmacher Edgar Wilkening für seine Projekte ins Studio ruft: international arbeitende Hochkaräter, die ihr Handwerk verstehen und sich leidenschaftlich begeistern lassen für die Aufgabenstellungen des Regisseurs. Sicher einer der Gründe, warum seine Arbeiten immer wieder in internationalen Wettbewerben dabei sind und seit Jahrzehnten mit Awards prämiert werden.
Gerade weil der Ton für die bedrückende Stimmung des Films so elementar ist, ist es schade, dass das Video vom 9. zum 10. November im Schaufenster hinter Glas lief – ohne Ton. Für den Jahrestag 2022 werden wir da sicher eine andere technische Präsentations-Plattform schaffen, um das Video einem größeren Publikum zu zeigen.
Bis dahin zeigen wir den Film hier im Stream. Als einzige Web-Plattform hat Das Herz der Stadt das Recht erhalten, das Video öffentlich zu zeigen. Ich empfehle, den Ton laut zu drehen und die Darstellung im Vollbild-Modus einzuschalten. Wider das Vergessen!